Stellt euch vor ihr dürft weder reisen noch soziale Netzwerke nutzen. Und das nur, weil ihr etwas tut, das dem System nicht passt. Genau das könnte euch in China mit dem Social Credit System passieren, bei dem jeder Bürger einen bestimmten Score hat. Kauft man beispielsweise zu oft Alkohol, werden einem Punkte abgezogen und man hat weniger Freiheiten. Ist man dahingegen ein vorbildliches Parteimitglied, bekommt man mehr Freiheiten und muss bspw. keine Kaution mehr bei einer Autovermietung hinterlegen.
Was in China längst Realität ist, könnte auch irgendwann bei uns Einzug halten. Wie weit wir bereits sind, zeigt die Harvard-Professorin Shoshana Zuboff in ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus*“ bzw. wie es auf Englisch erscheinen ist: "The Age of Surveillance Capitalism". Mein Name ist David und heute schauen wir uns an, was es mit dem Überwachungskapitalismus auf sich hat und was man dagegen tun kann. Außerdem zeige ich euch, wie ihr herausfinden könnt, was Google über euch weiß.
Überwachungskapitalismus Definition
Im Überwachungskapitalismus wird der Mensch als Datenquelle neu erfunden. Dabei werden alle möglichen Daten gesammelt, analysiert und ein Nutzerprofil erstellt, das an Firmen verkauft werden kann – unter anderem um personalisierte Werbung zu schalten, aber auch um unser Verhalten vorhersehen, kontrollieren und beeinflussen zu können.
Der Überwachungskapitalismus sei laut Shoshana Zuboff ein „Putsch von oben“ (S. 37), der für „eine Enteignung kritischer Menschenrechte“ (S. 7) sorge. Anders als George Orwells „Big Brother“ ist hier die Macht aber nicht beim Staat konzentriert, sondern bei privaten Firmen wie Google, Facebook und Amazon.
Während im normalen Kapitalismus Daten nur gesammelt werden, um die eigenen Produkte zu verbessern, geht der Überwachungskapitalismus einen Schritt weiter: Denn es werden mehr Daten gesammelt als eigentlich notwendig (der sog. Verhaltensüberschuss) – und das oft ohne der Zustimmung oder dem Wissen der Nutzer. Dadurch werden Verhaltensvorhersagen möglich, die dann als sog. Verhaltensterminkontrakte verkauft werden, um bspw. nach dem Joggen (also dann, wenn man empfänglichsten ist) Werbung für neue Laufschuhe zu schalten.
Die Anfänge des Überwachungskapitalismus mit Google
Angefangen hat alles mit Google in der Zeit der Dotcom-Blase. Während der Existenzkrise im Jahr 2000 entschloss sich das Unternehmen dazu, die Daten aus den Suchanfragen für personalisierte Werbung zu nutzen. Schnell wurde dieses neue Geschäftsmodell zur Haupteinnahmequelle und auch heute noch wird der Großteil der Einnahmen von Alphabet (dem Mutterkonzern von Google) durch Werbeeinnahmen erzielt [1]. Durch die „digitalen Abgase“ wie Standortdaten oder dem Nutzerverhalten kann Google relativ genau vorhersagen, auf welche Werbung man klickt.
Das kann natürlich auch dazu eingesetzt werden, um unser Verhalten (bspw. bei Wahlen) zu manipulieren. Nicht umsonst betreiben Firmen wie Google oder Facebook massiv Lobbyarbeit [2]. Dabei werden sie kaum reguliert oder halten sich einfach nicht an geltende Gesetze wie das Thema Street View zeigt, wo Google mit seinen Fahrzeugen nicht nur Bilder von der Umgebung gemacht hat, sondern dabei auch Daten zu WLAN-Netzwerken gesammelt hat.
Ist Facebook besser?
Neben Google erstellt auch Facebook Nutzerprofile. Durch die Analyse von Postings, Fotos und dem Nutzerverhalten kann man auf die Gefühlslage, die sexuelle Orientierung, die Intelligenz und andere Teile unserer Persönlichkeit schließen, um bspw. genau zur richtigen Zeit die richtige Werbung zu schalten.
Dabei ist gar nicht so relevant was man macht, sondern eher wie man es macht. Also welchen Filter man mit welcher Sättigung benutzt oder wie komplex unsere Sätze sind. Dadurch kann dann die künstliche Intelligenz trainiert werden. Um die KI noch weiter zu verbessern, führt Facebook mit seinen Nutzern auch Live-Experimente durch – ohne dass sie etwas davon wissen oder mitbekommen.
Wie sieht es bei anderen Unternehmen aus?
Neben Google und Facebook gehen immer mehr Firmen zum Überwachungskapitalismus über. Dazu gehören auch Internetanbieter, Versicherungen oder Banken, die bei einer überfälligen Rate theoretisch einfach die Zündung des Autos deaktivieren könnten.
Eine Ausnahme scheint da allerdings Apple zu sein: Denn sie gehen eher den Weg die Hardware teuer zu verkaufen, anstatt die Dienste kostenlos anzubieten und dann durch Datensammlung Geld zu verdienen. Ob das mit Apples neuester Ankündigung, die Daten aus der Cloud auf sensible Inhalte zu scannen, immer noch zutrifft, bleibt fraglich.
Vorhersage und Beeinflussung des Nutzerverhaltens
Apples Streaming-Plattform iTunes hat dabei gezeigt, dass es ein riesiges Potenzial für personalisierte Nachfrage gibt. Es ist aber nicht nur möglich, diese Nachfrage zu kennen, sondern auch sie vorhersagen zu können und zu beeinflussen. Somit ist die Nachfrage im Markt nicht mehr unbekannt. Wer das Verhalten am besten beeinflussen kann, liefert auch die genauesten Vorhersagen (das sog. Tunen).
Diese Manipulation geht bspw. durch interaktive Augmented Reality Spiele wie es Google mit Pokémon Go gezeigt hat. Dabei zahlten Restaurants oder Bars Geld, damit ein virtueller Pokémon bei ihnen im Laden platziert wird, um mehr Menschen anzuziehen. So berichtet bspw. ein Barbesitzer aus New-York auf TheGuardian, dass er durch ein 10 $ Investment an einem Wochenende einen Umsatzanstieg von 75 % verzeichnen konnte. [3]
Je mehr Daten ein Unternehmen dabei von uns bekommen kann, umso besser werden auch die Vorhersagen. Dazu werden immer mehr Geräte durch das Internet der Dinge in diese Infrastruktur eingebunden. Seien es Sensoren in der Zahnbürste, dem T-Shirt oder auch im öffentlichen Raum. Diese rechnergestützte Infrastruktur bezeichnet Shoshana Zuboff als „Big Other“.
Durch diese Datensammlung werden wir nicht mehr nur überwacht, sondern die Unternehmen können uns zu ihren Zwecken instrumentalisieren.
Daten, Daten, Daten
Dieser Datensammlung kann man sich kaum entziehen. Sobald man online ist, wird man nicht zum Kunde oder Produkt des Überwachungskapitalismus, sondern zum Rohstofflieferanten. Wir werden zum Objekt. Als Preis für die kostenlose Nutzung dieser Dienste verlieren wir immer mehr unseren persönlichen Rückzugsort – unseren Freistatt. Denn die digitale Technik hält immer weiter Einzug in unser Leben.
So saugen Saugroboter nicht nur, sondern erstellen auch gleich noch eine Karte der Wohnung. Sprachdienste wie Alexa oder Cortana hören uns jederzeit zu und auch im Schlafzimmer hält der Überwachungskapitalismus mit smarten Matratzen Einzug, die den Schlaf tracken und jegliche Geräusche aufzeichnen.
Smart Watches melden Daten zum Gesundheitszustand an die Krankenkasse, genauso wie das Auto Daten zur Fahrweise sammelt, um die Versicherungsbeiträge zu berechnen.
Und auch wenn ihr ein Android-Handy benutzt, seid ihr nicht sicher. Denn selbst wenn eure Standortdienste deaktiviert und die SIM-Karte ausgebaut ist, überträgt das Handy weiterhin Daten zum Standort an Google – offiziell um die Funktionalität der Dienste zu erhalten.
Jetzt sagt ihr vielleicht: Ja gut. Ich nutze das alles nicht. Ich habe keine Smart Watch und auch kein Amazon Echo. Und diesen Blogeintrag lese ich gerade im Tor Browser. Die Frage ist aber natürlich nur: Was ist, wenn es gar keine Alternativen mehr gibt? Euer neuer Staubsauger bspw. also nur noch dann funktioniert, wenn er mit dem Internet verbunden ist.
Datenschutzbestimmungen
Man muss aber auch fairerweise dazu sagen, dass diese Datensammlung im Normalfall in den Datenschutzbestimmungen aufgezeigt wird. Diese Verträge sind jedoch meist so umfangreich, dass sie keiner liest. Um alle Datenschutzbestimmungen zu lesen, die einem in einem Jahr unterkommen, bräuchte man 76 Tage.
Eines der Hauptprobleme: Wir haben uns daran gewöhnt
Mittlerweile sollte es allgemein kein Geheimnis mehr sein, dass Google & Co. Daten von uns sammeln und auch mit Staaten kooperieren. Das Problem daran ist nur, dass wir uns mittlerweile fast schon daran gewöhnt haben. Oft heißt es dann: Ich habe ja nichts zu verstecken.
„Wer nichts zu verstecken hat, ist auch nichts.“(S. 549) Shoshana Zuboff
Gefahr besonders für junge Menschen
Gerade bei jungen Menschen sieht sie besondere Gefahr. Denn junge Menschen sehnen sich nach Zugehörigkeit und genau das liefern Soziale Medien bspw. durch Likes und einen personalisierten Feed, der wie eine Droge süchtig macht – was ich auch nur persönlich bestätigen kann. Deshalb mein Tipp an euch: Wenn ihr noch kein TikTok habt, dann ladet es euch nicht runter, denn ansonsten werdet ihr süchtig werden. Insgesamt sollen Millennials übrigens durchschnittlich 157 mal pro Tag aufs Handy schauen.
Welche Daten sammelt bspw. Google über uns?
Was können wir also dagegen tun? Als erstes braucht es Aufklärung. Man muss sich der immensen Datensammlung erst einmal bewusst werden. Dazu ein kleiner Exkurs von mir, wie ihr herausfinden könnt, was Google über euch weiß.
Auf myactivity.google.com könnt ihr beispielsweise einsehen, was Google über euch gespeichert hat – sofern ihr diese Funktion aktiviert habt. So werden auf der Google Location History alle Standorte aufgezeigt, die ihr besucht habt – teilweise auch mit genauem Tagesverlauf. So weiß Google zum Beispiel über mich, dass ich Anfang September 2018 zuerst bei Kaufland einkaufen war und danach im Aquarium war.
Bei Google My Activity könnt ihr euch außerdem euer Benutzerverhalten anzeigen lassen. Für den 1.Oktober 2016 liegen so über mich 324 Einträge vor, die Auskunft über den Suchverlauf und die Benutzung von Apps geben. So weiß Google beispielweise, dass ich an diesem Tag 16 mal Instagram benutzt habe und 5 mal Spotify.
Außerdem wird auch die gesamte Kommunikation mit dem Google Sprachassistenzen aufgezeichnet und transkribiert. So habe ich beispielsweise mal 2018 nach dem Wetter gefragt – und ich kann mir die Aufzeichnung auch anhören.
Aus diesen Daten wird dann in der Summe ein Nutzerprofil erstellt, das ihr bei Google Preferences einsehen könnt. Dieses Profil wird unter anderem dazu benutzt, um personalisierte Werbung auf YouTube zu schalten.
Diese gerade gezeigten Dienste können auch deaktiviert werden. Allerdings ist natürlich fraglich, inwieweit Google die Daten trotzdem sammelt und man die Datensammlung einfach nur nicht mehr sieht.
Die Überwachungskapitalisten
Jetzt aber zurück zum Buch: Während China mit dem Social Credit System eher in Richtung „Big Brother“ geht, wo die Macht beim Staat liegt, ist es bei uns die Privatwirtschaft, die über die Überwachung bestimmt. Diese Menschen herrschen über die Wissensteilung und wollen die Gesellschaft lenken, obwohl sie nicht demokratisch gewählt wurden und keiner Kontrolle unterliegen – so die Autorin.
Während Industriekapitalisten die Natur ausbeuteten, beuten Überwachungskapitalisten die menschliche Natur aus. Für sie ist der freie Wille eine Illusion, denn Menschen ahmen einander nur nach. Wer sich außerhalb der Norm verhält, wird durch Gruppendruck zum richtigen Verhalten gedrängt oder es werden technische Funktionen blockiert.
Schaden an der Gesellschaft
Dass dieses Verhalten der Gesellschaft schadet, dürfte nicht überraschen. Durch die zunehmende Vernetzung sinkt das Vertrauen in den Staat und in andere Menschen immer weiter.
Dazu kommt auch noch, dass wir uns oft vergleichen. Das erhöht aber die eigene Unzufriedenheit und erzeugt einen Teufelskreis. Das Social Credit System in China sorgt beispielsweise dafür, dass Menschen teilweise nichts mehr mit Bekannten zu tun haben wollen, die einen schlechten Score haben. Denn das könnte ja den eigenen Score runterziehen.
Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen?
Online können wir eine andere Identität annehmen. Deshalb wurde das Internet auch zuerst als befreiend wahrgenommen. Mittlerweile können wir mit den technischen Innovationen kaum mehr Schritt halten. Die Überwachungskapitalisten wissen das und nutzen es zu ihren Gunsten: Wenn es mal einen Shitstorm wegen der Verletzung von Privatsphäre geben sollte, wird einfach abgewartet, bis keiner mehr darüber spricht, die Strategie angepasst und es passiert das, was passieren soll: Wir gewöhnen uns daran.
Ein weiterer Grund ist der neoliberale Zeitgeist aus dem Ende des 20. Jahrhunderts. Das sorgte dafür, dass manche Unternehmen das Gefühl hatten, einfach machen zu können was sie wollen - ohne wirklich auf Gesetze zu achten.
Dazu kamen dann auch noch die Anschläge des 11. September, die zu eine vermehrten Überwachung führten – mit dem Hintergrund so etwas in der Zukunft verhindern zu können bevor es eintritt.
Das Problem liegt nicht in der Technologie
Dabei ist gar nicht die Technologie an sich das Problem, sondern die Überwachungskapitalisten, die Shoshana Zuboff ähnlich besorgniserregend einstuft wie mach einen Diktator des 20. Jahrhunderts.
Ist die DSGVO die Lösung?
Eine Lösung könnten Regulierungen sein - wie wir sie bspw. in der EU mit der Datenschutzgrundverordnung haben. Damit einher geht das Recht auf Vergessenwerden. So müssen Konzerne wie Google und Facebook auf Antrag persönliche Daten löschen. Allerdings gibt es natürlich auch hier Mittel und Wege um das Ganze etwas aufzulockern.
Was es jetzt braucht
Laut Shoshana Zuboff stehen wir an einem Scheideweg. Was es braucht, ist eine „direkte Kampfansage“ (S. 557) und gemeinsames Handeln. Ziel sollte sein, sich das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und das Recht auf einen Freistatt (also einen persönlichen Rückzugsort) zurückzuholen, indem man das Sand im Getriebe ist.
Denn was wäre das für ein Leben, bei dem man sich die ganze Zeit verstecken müsste? Dazu brauchen wir demokratische Institutionen, die den Einsatz der Algorithmen überwachen – so der eindrückliche Appell von Shoshana Zuboff.
Dazu sagt sie:
„Wenn die digitale Zukunft uns eine Heimat sein soll, ein Zuhause werden soll, dann ist es an uns, sie dazu zu machen“ (S. 37).