Die Anfänge von Paul Bauer-Schlichtegroll
Es beginnt 1998 mit dem Geschäftsmann Paul Bauer-Schlichtegroll, der zu dieser Zeit auch beim Internet-Hype mitmischen möchte. Er bemerkt, dass es noch kaum Zahlungsdienstleister fürs Internet gibt. Außer für die Erotikbranche, denn da läuft die Abrechnung oft über sog. Dialer, die pro Minute abrechnen.
Nachdem er seine eigene AG gegründet hat, erkennt Paul Bauer-Schlichtegroll das Potenzial der Dialer und stellt sie auch anderen Seiten zur Verfügung. Allerdings werden auch schon damals die Grenzen der Legalität ausgereizt. Denn die Dialer werden so modifiziert, dass sie immer, wenn man im Internet unterwegs ist, abrechnen. Und das war gar nicht billig: Denn entweder wurden einmalige Kosten berechnet, die schon mal bei 800 D-Mark liegen konnten, oder pro Minute. Da hat der Spaß dann bis zu 3,63 D-Mark pro Minute kosten können.
Das ging sogar so weit, dass auf den CDs, die oft als Beilage bei Magazinen dabei sind, die Dialer-Programme bereits vorinstalliert waren. Hat man die CD also nur einmal in seinen PC geschoben, wurde im Hintergrund der Dialer scharf gemacht und Paul Bauer-Schlichtegroll hat ordentlich kassiert.
Dass das Ganze eventuell zu rechtlichen Schwierigkeiten führen könnte, war natürlich auch Bauer klar. Deshalb wurden dann kurzerhand heikle Geschäfte an Partnerfirmen (z.B. in Spanien) ausgelagert, sodass sich Bauer im Zweifelsfall einfach aus der Verantwortung hätte ziehen können.
Dazu kommt dann auch noch, dass es immer wieder technische Probleme bei den Abbuchungen gibt, sodass irgendwann keiner mehr wirklich einen Überblick über die tatsächlichen Zahlen hat. Dieses Problem sollen 1999 Alexander Herbst und Oliver Bellenhaus (der damals noch Anfang 20 ist) lösen. Aber auch die beiden schaffen es nicht, Herr über die Zahlen zu werden.
Außerdem hat das junge Unternehmen immer mehr mit Konkurrenz zu kämpfen, allen voran auch mitPayPal.
Die Gründung von Wire Card
Unabhängig von Paul Bauer-Schlichtegroll entwickelt Detlev Hoppenrath ungefähr zur gleichen Zeit Software für Zahlungen im Internet, mit seinem Unternehmen Wire Card. Die Firma möchte eine Schnittstelle für Onlinehändler, Kreditkartenhändler und Kunden sein. Deshalb auch der Unternehmensname: Wire Card verbindet die Kreditkarte mit dem Internet.
Detlev Hoppenrath schafft es, von Investoren Millionengelder einzusammeln, sodass er auch neue Mitarbeiter einstellen kann: zum Beispiel den Österreicher Jan Marsalek. Marsalek kann gut programmieren und bringt sich sehr stark in das Start-up ein, sodass er zum CTO (Cheftechniker) befördert wird.
Allerdings läuft es nicht wie erwartet und Jan Marsalek, der zu dieser Zeit 20 Jahre alt ist, kann die Anforderungen nicht erfüllen und fällt durch diverse Lügen negativ auf. Er wird aber nicht gekündigt, sondern nur degradiert.
Bei der Unternehmensführung um Detlev Hoppenrath läuft es allerdings nicht besser, denn über die Millionenverluste sind die Investoren nicht gerade angetan. Deshalb fordern sie Hilfe an. Und die kommt dann in Form von Markus Braun. Braun ist eigentlich Krisenmanager und soll der Firma auf die Sprünge helfen. Aber weil Detlev Hoppenrath so begeistert von Markus Brauns Arbeit ist, wird er abgeworben und kommt in den Vorstand von Wire Card.
Es gibt aber weitere Probleme: Denn das Platzen der Dotcom-Blase und die Anschläge des 11. September setzen der Firma stark zu, sodass sie kurz vor der Insolvenz stehen.
Der Zusammenschluss
Fassen wir also nochmal kurz zusammen: Wir haben einmal Paul Bauer-Schlichtegroll mit EBS, die keine technisch ausgereifte Bezahlplattform haben, aber Kunden. Und dann haben wir noch Wire Card mit Markus Braun, bei denen das Produkt zwar gut ist, die aber keine Kunden haben. Deshalb möchten sich die beiden Unternehmen zusammenschließen.
In der Rechnung fehlt aber noch Hoppenrath, der Gründer von Wire Card, der eigentlich gegen die Fusion oder den Verkauf ist. Er kann aber nicht dagegen tun und verlässt den Aufsichtsrat.
Die Rettung Wire Cards scheitert trotzdem erst einmal. Der Grund: Angeblich sollen durch einen Einbruch Firmenlaptops mit wichtigen Daten verschwunden sein.
Im November 2001 meldet Wire Card Insolvenz an. Trotzdem kommt es danach zur Übernahme von Wire Card durch die EBS AG. Bauer wird der Chef des Konzerns.
Anfangs läuft in der neuen Firma auch alles gut und es gibt Gewinne in Millionenhöhe.
2003 werden jedoch die Gesetze für Dialer verschärft, sodass ein wichtiger Geschäftsbereich vor allem in der Erotikbranche wegfällt. Die Lösung: Wetten und Glücksspiel im Internet. Ob das Ganze in dieser Form überhaupt legal ist, ist zu dieser Zeit noch nicht ganz klar. Die hohen Gewinnmargen machen dieses Risiko aber wett.
Wirecard kommt an die Börse
2005 kommt es zum Börsengang und es entsteht die Wirecard AG. Dadurch kommt es aber auch zum Streit um die Führungsriege. Schlussendlich kann sich Braun gegen Bauer durchsetzen. Er wird Vorstandschef und bekommt acht Prozent der Unternehmensanteile zum Vorzugspreis.
Glücksspiel und Wetten
Zwar bekommt Wirecard immer mehr seriöse Kunden, trotzdem hängt ein Großteil des Umsatzes von der Glücksspielbranche ab. 2006 kommt in den USA ein Gesetz, das es verbietet, Zahlungsaufträge von Onlineglücksspiel abzuwickeln.
Und obwohl andere Konkurrenten stark davon betroffen sind, zeigt sich Wirecard unbeeindruckt. Dann sie haben bereits ein System entwickelt, um diese Vorgaben zu umgehen.
Drittpartner
Die Lösung steckt in Drittanbietern (beispielsweise auf Gibraltar). Oft sind das Scheinfirmen oder Mittelsmänner, die dafür sorgen, dass das Geld nicht mehr direkt dem Glücksspiel zugeordnet werden kann und sich Wirecard aus der Verantwortung ziehen kann.
Kampf: Wirecard vs. Short-Seller
Dass bei Wirecard etwas nicht ganz richtig laufen kann, bemerken 2007 auch Short-Seller. Denn sie zweifeln unter anderem an der Richtigkeit von Wirecards Bilanz. Zwar gerät damit das Unternehmen unter Druck, aber es wird einfach der Spieß umgedreht und den Short-Sellern wird Insiderhandel und Marktmanipulation vorgeworfen.
Einige Short-Seller berichten auch davon, bedroht und ausspioniert worden zu sein, sodass sie sich wieder zurückziehen. Und auch später, beispielsweise 2010, werden der BaFin und der Staatsanwaltschaft angeblich krumme Geschäfte von Wirecard gemeldet. Wirecard passiert aber nichts. Stattdessen werden Short-Seller verhaftet. Der Vorwurf: Kursmanipulation.
Explodierende Gewinne
Für Wirecard läuft es offiziell weiterhin prächtig. Ab 2011 sorgt Jan Marsalek, der mittlerweile auch im Vorstand sitzt, zusammen mit Finanzvorstand Burkhard Ley dafür, dass Wirecard weiter expandiert. Vor allem nach Asien. Die Gesellschaft in Gibraltar wird dicht gemacht, dafür entstehen neue Konzerntöchter, bei denen die Gewinne explodieren, obwohl eigentlich kaum einer weiß, für was sie zuständig sind. Und auch generell wird die Struktur immer undurchsichtiger und immer weiter wird der Überblick über die Geldströme verloren. Außerdem werden auch Firmen und Kundendaten für viel zu überteuerte Preise aufgekauft.
Wirtschaftsprüfer
Das führt dazu, dass auch Wirtschaftsprüfer auf Wirecard aufmerksam werden. Denn für das angebliche Wachstum von bis zu 30 Prozent pro Jahr gibt es eigentlich keine wirkliche Erklärung. Und es gibt noch weitere Ungereimtheiten.
Dazu müssen wir uns zuerst anschauen, was Wirecard eigentlich macht. Grundsätzlich werden zwei Dienstleistungen angeboten:
- Wirecard tritt als Payment-Service-Provider (PSP) auf. Hier werden nur die benötigten Daten transportiert. Beim Kauf erfolgt eine Info an die Bank, dass das Geld abgebucht werden soll.
- Dank eigener Banklizenz fungiert Wirecard auch als Acquirer. Hier kümmert sich Wirecard auch um den Transport des Geldes vom Kunden zum Händler.
Allerdings ist das auch mit Risiken verbunden, sodass Wirecard oft erst einen Teil als Sicherheit zurückhält. Theoretisch müsste das in der Bilanz so ausgewiesen werden, dass die Verbindlichkeiten gegenüber den Händlern genauso hoch sind, wie die Forderungen gegenüber den Kreditkartenorganisationen (zusätzlich der Barmittel).
Das sieht bei Wirecard aber etwas anders aus: Die Forderungen zuzüglich Cash-Bestand sind höher als die Verbindlichkeiten. Das würde bedeuten, dass Wirecard mehr Geld einsammelt, als es den Händlern schuldet. Berechnungen zufolge sind die Forderungen im Jahr 2015 um 250 Millionen Euro zu hoch (entspricht Unternehmensgewinne aus 2014 und 2015 zusammen).
Wie man heute weiß, kommen diese Forderungen durch zweifelhafte Geschäfte mit Drittpartnern im Ausland zustande. So entsteht ein Konstrukt aus Scheinfirmen und Briefkastenfirmen. Am wichtigsten sind dabei Dubai, Singapur und die Philippinen. Der Vorteil für Wirecard: Sie können darüber Zahlungen abwickeln, die sie selbst nicht in den Büchern stehen haben möchten (beispielsweise durch unseriöse Firmen).
Eine neue Lösung muss her: Treuhandkonten
Damit die mittlerweile sehr hohen Forderungen in der Bilanz nicht auffallen, hat Wirecard auch schon eine Lösung parat: Die Drittpartner überweisen die Provisionen an Treuhandkonten zugunsten von Wirecard, aber eben nicht auf das Geschäftskonto.
Die Folge: Unbezahlte Rechnungen tauchen nicht mehr in den Büchern auf, weil sie ja angeblich bezahlt wurden. Auf dem Papier ist damit alles in Ordnung und es sieht so aus, als ob Wirecard auf immensen Cash-Bergen sitzt.
2018 wird von Ernst & Young (EY) bestätigt, dass knapp eine Milliarde Euro auf den Treuhandkonten liegt. Das Problem daran: Sie haben es nie überprüft.
Fragen über Fragen
Obwohl Wirecards Geschäftsmodell ins Wanken gerät – denn Erotikfilme gibt es online gratis, Glücksspiel ist durch schärfere Gesetze schwierig und es gibt viele Konkurrenten – wird eine Jubelmeldung nach der anderen veröffentlicht.
Das bringt immer mehr Menschen dazu, genauer nachzuhaken. Das Ergebnis: Die Zahlen passen nicht mit den Recherchen zusammen. Deshalb kommt schnell der Vorwurf auf, dass Wirecard entweder Bilanzfälschung betreibt oder mit zweifelhaften Unternehmen zusammenarbeitet und Geldwäsche betreibt.
Wirecard reagiert mit der bewährten Taktik: Sie streiten die Vorwürfe ab und stellen die Quelle als unglaubwürdig dar. Außerdem wird auf die unabhängigen Prüfer von EY verwiesen, die bisher alle Wirecard-Bilanzen testiert haben. Und natürlich wird darauf eingegangen, dass Markus Braun selbst Großaktionär ist und damit am Erfolg der Firma interessiert ist. Zur Ablenkung folgt am Schluss dann die nächste Jubelmeldung.
Die Folge: Kaum einer interessiert sich für die veröffentlichten Berichte gegen Wirecard und der Aktienkurs steigt fröhlich weiter. 2018 kommt auch direkt die nächste Jubelmeldung: Wirecard wird in den DAX aufgenommen, nachdem sie bereits seit 2006 im TecDAX vertreten sind.
Erste Probleme in Singapur
In Singapur werden allerdings langsam auch Mitarbeiter auf die zweifelhaften Geschäftspraktiken aufmerksam. Denn um keine Verluste auszuweisen, wird Geld hin- und hergeschoben, indem zum Beispiel Beratertätigkeiten abgerechnet werden. Ob jemals tatsächlich Leistungen erbracht wurden, weiß keiner so genau.
Eine Rechtsanwaltskanzlei fängt an sich mit dem Thema zu beschäftigen. Ihr Ergebnis: Einige Verträge und Rechnungen sind sehr wahrscheinlich erfunden. Es passiert aber erst einmal wie so oft nichts.
Dan McCrum deckt auf
Unter anderem diese Vorgänge in Singapur macht der Financial-Times-Journalist Dan McCrum öffentlich. Und immer mehr Journalisten beschäftigen sich mit dem „House of Wirecards“. Wirecard reagiert wie gewohnt und wirft Insiderhandel und Marktmanipulation in den Raum. Denn nach solchen Negativberichten stürzt der Aktienkurs von Wirecard im Normalfall zweistellig ab, sodass Leerverkäufer dadurch ganz gut verdienen können.
Das führt auch dazu, dass die BaFin anfängt zu ermitteln. Aber nicht gegen Wirecard, sondern gegen die Journalisten und Short-Seller. Schließlich wird das Wetten auf fallende Kurse bei Wirecard komplett verboten.
Im Oktober 2019 erscheint ein neuer Negativbericht über Wirecard. Das Thema: Wirecards Drittpartnergeschäfte. Und diesmal können sie sich nicht so einfach aus der Misere ziehen. Deshalb sollen Wirtschaftsprüfer von KPMG Licht ins Dunkle bringen.
Wie sich herausstellt, existieren viele benötigte Dokumente gar nicht. Und es gibt ein neues Problem: In Singapur ermittelt die Polizei gegen Wirecard, sodass der Treuhänder, der angeblich fast 2 Milliarden Euro für Wirecard verwaltet, Probleme bekommt. Deshalb übergibt er das Geld an einen Freund auf den Philippinen.
KPMG kann die Vorwürfe gegen Wirecard nicht widerlegen und der Bericht verschiebt sich immer weiter. Und auch der Bericht im April 2020 lässt die Fragen offen, ob die Drittpartnergeschäfte tatsächlich so stattgefunden haben und ob es die 1,9 Milliarden Euro auf den Treuhandkonten wirklich gibt.
Auch rückt EY immer weiter in den Fokus: Sie sollen Wirecard nämlich dabei geholfen haben, größer und erfolgreicher auszusehen, als sie eigentlich waren. Deshalb schaut EY beim Jahresbericht von 2019 auch ganz genau hin und verschiebt ihn immer weiter. In der Zwischenzeit zweifelt EY auch daran, dass es das Geld auf den Treuhandkonten überhaupt gibt. Denn die angeforderten Dokumente kann Wirecard nicht liefern.
Der Anfang vom Ende
Als es auch am 18. Juni 2020 kein Testat von EY gibt, wird klar, dass Wirecard Kredite in Höhe von ca. zwei Milliarden Euro gekündigt werden könnten. Die Folge: Der Aktienkurs stürzt ab, Jan Marsalek wird freigestellt und Markus Braun tritt zurück.
Am 22. Juni bestätigt sich dann, was viele schon vermutet hatten: Die 1,9 Milliarden Euro auf den philippinischen Treuhandkonten existieren nicht. Das ist der finale Todesstoß für Wirecard: Gegen Marsalek und Braun wird Haftbefehl erlassen und am 25. Juni beantragt Wirecard Insolvenz. Braun stellt sich freiwillig, von Marsalek fehlt bis heute jede Spur. Als Folge stürzt die Aktie komplett ab.
Der Geschäftsführer für Dubai, Oliver Bellenhaus, stellt sich freiwillig der Polizei und packt aus – über einen Betrug ungeheuren Ausmaßes. Seiner Aussage zufolge wurde bereits 2015 beschlossen, Einnahmen aus Drittpartnergeschäften zu erfinden, um die Bilanzsumme aufzublähen. Das Ziel der Aktion: Wirecard attraktiver darstellen als es eigentlich war. Denn eigentlich war wohl schon 2015 klar, dass Wirecard nur Verluste macht.
Die Anklageschrift lautet übrigens: Gewerbsmäßiger Bandenbetrug, Untreue, unrichtige Darstellung und Marktmanipulation.
Was bleibt
Was bleibt ist eine Firma mit einer Liquiditätslücke von über 99 Prozent und viele Fragen:
- Warum hat die BaFin nicht eingegriffen und warum hat EY Wirecards Bilanzen jahrelang trotz Fehler testiert?
- Was ist mit dem Geld auf den Trauhandkonten passiert oder hat es nie existiert?
- War Jan Marsalek V-Mann eines Geheimdienstes?
- Und wie konnte die ganze Misere nicht schon früher mehr Mitarbeitern (auch in der Führungsriege) auffallen? War es vielleicht Angst oder das gute Gehalt, das sie davon abgehalten hat? Oder hat tatsächlich niemand etwas gewusst?
Ob die laufenden Ermittlungen Antworten auf diese und weitere Fragen liefern, wird sich zeigen. Klar ist aber: So etwas sollte nicht wieder passieren.
Wenn ihr mehr Einzelheiten zum Fall Wirecard haben wollt, würde ich euch das Buch „Die Wirecard-Story“ (*) empfehlen. Es war auch Grundlage für diesen Blogeintrag.