Es ist eine Welt, in der vermutlich keiner von uns leben wollen würde. Es geht um komplette Überwachung, einen Staat, der knallhart durchgreift und Bürger, die sich gegenseitig ausspionieren.
Diese Welt beschreibt zumindest George Orwell in seinem Buch „1984“. Aber wie viel davon ist eigentlich heute schon Realität? Genau das schauen wir uns in diesem Blogeintrag an!
Ständige Überwachung in Orwells "1984"
In George Orwells Roman „1984“ werden die Bürger ständig überwacht. Das Motto ist „Big Brother is watching you” – also „Der Große Bruder sieht dich“. [1]
Das wird unter anderem durch den sog. Teleschirm ermöglicht. Das ist eine Art Fernseher, der nicht abgeschaltet werden kann [2] und auf dem Propaganda läuft – wie bspw. die folgenden Parteiparolen:
„Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“ [3]
Der Teleschirm kann aber nicht nur senden, sondern damit werden die Bewohner Ozeaniens auch ständig überwacht. [4]
Man muss ständig Angst vor der Gedankenpolizei haben, kann sich nie sicher sein, dass man auch wirklich allein ist und muss sogar Angst haben, von der eigenen Familie bespitzelt zu werden. [5] [6]
Ist das bei uns schon Realität?
Die Harvard-Professorin Shoshana Zuboff zeigt in ihrem 2018 erschienen Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“, dass die Realität bei uns doch etwas anders aussieht.
Im Time Magazine schriebt sie dazu, dass wir seit der Veröffentlichung von „1984“ davon ausgegangen sind, dass die Gefahren der Massenüberwachung und sozialen Kontrolle nur vom Staat ausgehen können. Laut ihr haben wir uns geirrt – und das hat uns vor einer bösartigen, aber ganz anderen Bedrohung für Freiheit und Demokratie ungeschützt gelassen. [7]
Denn tatsächlich ist es bei uns so, dass die Datensammlung vor allem von privaten Unternehmen wie Google oder Meta passiert. [8] Shoshana Zuboff bezeichnet das als „Überwachungskapitalismus“, bei dem die menschliche Erfahrung als kostenloser Rohstoff dient. [9]
Damit kann unser Verhalten nicht nur analysiert werden, sondern unser Verhalten kann auch vorhergesehen und kontrolliert werden. [10] Diese Verhaltensvorhersagen können dann auf sog. Verhaltensterminkontraktmärkten verkauft werden. [11]
Missbrauch der Daten
Beispielsweise hat der amerikanische Psychologe Prof. Dr. Robert Epstein in mehreren Untersuchungen nachgewiesen, dass Google seine Marktmacht ausnutzen könnte, um Wahlen zu manipulieren. [12]
Darüber schreibt er in dem Buch „Die Akte Google*“ und nennt das Ganze nennt den „Manipulationseffekt durch Suchmaschinen“[13]. Da weltweit 25 Prozent der landesweiten Wahlen mit einem Vorsprung von weniger als 3 Prozent gewonnen werden [14], würde bereits eine minimale Manipulation reichen, um einem bestimmten Kandidaten zum Sieg zu verhelfen.
Schließlich ist es mittlerweile unumstritten, dass die Reihenfolge von Suchergebnissen und die Auswahl der Nachrichten Einfluss auf die politische Meinungsbildung haben können. [15]
Diese Beeinflussung muss dabei gar nicht unbedingt von Google selbst verursacht werden. Es wäre auch denkbar, dass die Algorithmen oder auch Künstliche Intelligenz automatisch bestimmte Kandidaten höher rankt – ohne dem Einwirken eines Mitarbeiters von Alphabet. [16]
Aber auch das Augmented Reality Spiel Pokémon Go zeigt welche Ausmaße das Ganze annehmen kann. So zahlten bspw. Restaurants und Barbesitzer Geld, damit ein virtueller Pokémon bei ihnen im Laden platziert wurde, um mehr Menschen anzuziehen. So berichtet bspw. ein Barbesitzer aus New-York auf TheGuardian, dass er durch ein 10 $ Investment an einem Wochenende einen Umsatzanstieg von 75 % verzeichnen konnte. [17]
Aber auch andere Dienste wie Meta sind da nicht besser als Google. Beispielsweise kann man durch die Analyse von Postings, Fotos und dem Nutzerverhalten auf die Gefühlslage, die sexuelle Orientierung, die Intelligenz und andere Teile unserer Persönlichkeit schließen. [18]
Das Problem daran: Immer mehr Firmen gehen zum Überwachungskapitalismus über – also dass mehr Daten als eigentlich notwendig gesammelt werden.
So ist es beispielsweise denkbar, dass bei einer überfälligen Rate einfach die Zündung des Autos deaktiviert werden könnte. [19] Smart Watches melden Daten zum Gesundheitszustand an die Krankenkasse [20], genauso wie das Auto Daten zur Fahrweise sammelt, um die Versicherungsbeiträge zu berechnen. [21]
Folgen der Datensammlung
Was man aber auch dazu sagen muss: Die Datensammlung wird im Normalfall in den Datenschutzbestimmungen aufgezeigt. Diese Verträge sind jedoch meist so umfangreich, dass sie keiner liest. Um alle Datenschutzbestimmungen zu lesen, die einem in einem Jahr unterkommen, bräuchte man 76 volle Arbeitstage. [22]
Trotzdem geben wir diesen Unternehmen unsere Daten freiwillig. Und genau das ist laut Shoshana Zuboff das Problem: Denn wir haben uns mittlerweile fast schon an die Datensammlung gewöhnt. [23]
Oft interessiert und die Datensammlung gar nicht. Viele sagen dann: "Ich habe ja nichts zu verstecken."
„Wer nichts zu verstecken hat, ist auch nichts.“ Shoshana Zuboff [24]
Laut der Autorin verlieren wir immer mehr unseren persönlichen Rückzugsort – unseren Freistatt. [25]
Sie schreibt dazu:
„Wenn die digitale Zukunft uns eine Heimat sein soll, ein Zuhause werden soll, dann ist es an uns, sie dazu zu machen.“ Shoshana Zuboff [26]
Und auch Professor Epstein warnt davor, dass Unternehmen wie Google die Macht haben, die Demokratie wie wir sie kennen in die Bedeutungslosigkeit zu führen. [27]
Es liegt also vor allem an uns, das erst gar nicht zuzulassen. Was wir brauchen, sind demokratische Institutionen, die den Einsatz der Algorithmen überwachen – so der eindrücke Appell von Shoshana Zuboff. [28]
Natürlich nimmt auch die Datensammlung durch den Staat zu – beispielsweise durch Überwachungskameras im öffentlichen Raum [29]. Und es ist auch kein Geheimnis mehr, dass Unternehmen wie Google & Co. mit Staaten kooperieren. [30]
Totalitarismus vs. Instrumentarismus
Zu verwechseln ist das Ganze aber nicht mit dem Totalitarismus aus „1984“. Stattdessen bezeichnet Shoshana Zuboff die neu entstandene Macht bei uns als Instrumentarismus. [31] Staat Big Brother ist hier Big Other an der Macht.
Und zwischen den beiden Mächten gibt es wichtige Unterschiede:
Zum Beispiel werden wir anders als bei Big Brother nicht durch Angst und Gewalt beherrscht. Dadurch unterschätzen wir aber die Auswirkungen des Überwachungskapitalismus und sind weniger wachsam. [32]
Anders als bei „1984“ ist es der instrumentären Macht auch egal was wir denken, fühlen oder tun, solange sie uns dabei beobachten kann und die Daten entsprechend weiterverarbeitet werden. [33]
In „1984“ ist das anders. Denn dort sollen die Menschen gebrochen werden und es wird erwartet, dass man keine privaten Gefühle hat. [34] So wird Winston Smith bspw. gefoltert [35] und dabei soll er von Doppeldenk überzeugt werden. Von einem linientreuen Parteimitglied wird nämlich erwartet, unbewusst zwischen zwei Wahrheiten hin- und her zuschalten zu können. Wenn die Partei sagt 2 + 2 = 5, dann ist das so. Man muss es aber auch wirklich glauben. Es einfach nur zu sagen und dabei zu lügen, bringt nichts. Es gibt aber auch Fälle, in denen 2 + 2 = 4 sein kann. Die Kunst ist also, in einem Moment zu glauben 2 + 2 = 5, und im anderen zu glauben es ist 4 – je nachdem was die Partei sagt. [36] Die Partei bestimmt also über die Wahrheit und über Naturgesetze wie die Schwerkraft.
Im Instrumentarismus ist die Wissensteilung außerdem sehr asymmetrisch. Während Big Other alles über uns weiß, wissen wir fast nichts über ihn. [37]
Dieses Ungleichgewicht der Macht ist nicht illegal, weil wir noch keine Gesetze haben, um es zu kontrollieren, aber es ist von Grund auf antidemokratisch – so Shoshana Zuboff. [38] Denn die Überwachungskapitalisten wurden weder gewählt, noch werden sie groß kontrolliert [39] und sie halten sich teilweise einfach nicht an geltende Gesetze wie der Street-View Skandal zeigt wo Google mit seinen Fahrzeugen nicht nur Bilder von der Umgebung gemacht hat, sondern dabei auch Daten zu WLAN-Netzwerken gesammelt hat. [40]
Fazit
Wie ihr seht, gibt es zwischen der kompletten Überwachung aus „1984“ und der heutigen Realität wichtige Unterschiede.
Shoshana Zuboff schreibt dazu:
„Rather than an intimate Big Brother that uses murder and terror to possess each soul from the inside out, these digital networks are a Big Other: impersonal systems trained to monitor and shape our actions remotely, unimpeded by law.“ Shoshana Zuboff [41]
Natürlich gibt es in „1984“ noch viele andere Entwicklungen, die wir uns jetzt nicht angeschaut haben, um den Rahmen dieses Blogeintrags nicht zu sprengen. Dazu gehört bspw. die neu entwickelte Sprache Neusprech oder auch das Wahrheitsministerium, bei dem die Vergangenheit immer der Gegenwart angepasst wird. Auch haben wir jetzt noch keinen Blick auf das Social Credit System in China geworfen und der Frage ob und inwieweit sich das von dem hier beschriebenen Instrumentarismus unterscheidet.
Schreibt gerne in die Kommentare ob ihr noch einen zweiten Teil dazu haben wollt und abonniert den Newsletter, um nichts mehr zu verpassen. Und in der Zwischenzeit könnt ihr euch ja die Buchvorstellungen zu George Orwells „1984“ und zu Shoshana Zuboffs Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ anschauen.
Quellenverzeichnis
[1] Orwell, G. (2017). 1984 (40. Aufl.). Ullstein Taschenbuch. S. 7 f.
[2] A.a.O., S. 8 f.
[3] A.a.O., S. 10.
[4] A.a.O., S. 9.
[5] A.a.O., S. 253 f.
[6] A.a.O., S. 164.
[7] Vgl. Zuboff, S. (2019, 6. Juni). The Surveillance Threat Is Not What Orwell Imagined. Time. https://time.com/5602363/george-orwell-1984-anniversary-surveillance-capitalism (Letzter Aufruf: 05.01.2023).
[8] Ebd.
[9] Zuboff, S. (2018). Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus Verlag. S. 7.
[10] A.a.O., S. 22 f.
[11] Ebd.
[12] Fricke, T.; Novak, U. (2015). Die Akte Google: Wie der US-Konzern Daten missbraucht, die Welt manipuliert und Jobs vernichtet. München: Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH. S. 165 - 173.
[13] A.a.O., S.168.
[14] A.a.O., S. 169.
[15] A.a.O., S.164.
[16] A.a.O., S.169.
[17] Sidahmed, M. (2020, 16. April). Pokémon Go: Restaurants and bars cash in on Pokéstop locations. the Guardian. https://www.theguardian.com/technology/2016/jul/14/pokemon-go-sponsored-locations-restaurants-business (Letzter Aufruf: 05.01.2023).
[18] Zuboff. Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. S. 311.
[19] A.a.O., S. 247.
[20] Breustedt, H. (2015, 16. Oktober). Smartwatch: Wenn Krankenkassen Fitnessdaten sammeln. DIE WELT. https://www.welt.de/gesundheit/article137929788/Krankenversicherer-sind-begierig-auf-Fitnessdaten.html (Letzter Aufruf: 07.01.2023).
[21] Zuboff. Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. S. 248 f.
[22] A.a.O., S. 69 f.
[23] A.a.O., S. 583.
[24] A.a.O., S. 549.
[25] A.a.O., S. 548.
[26] A.a.O., S. 37.
[27] Vgl. Fricke; Novak. Die Akte Google. S. 172.
[28] Zuboff. Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. S. 223.
[29] Bocksch, R. (2022, 22. Juli). Big Brother is watching you. Statista Infografiken. https://de.statista.com/infografik/22350/ueberwachunsgkameras-in-ausgewaehlten-grossstaedten (Letzter Aufruf: 07.01.2023).
[30] Zuboff. Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. S. 449 - 451.
[31] A.a.O., S. 441.
[32] Zuboff. The Surveillance Threat Is Not What Orwell Imagined.
[33] Zuboff. Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. S. 438.
[34] Orwell, 1984. S. 254 f.
[35] A.a.O., S. 290 f.
[36] A.a.O., S. 301.
[37] Zuboff. Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. S. 223 - 225.
[38] Zuboff. The Surveillance Threat Is Not What Orwell Imagined.
[39] Zuboff. Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. S. 125.
[40] Fricke; Novak. Die Akte Google. S. 160.
[41] Zuboff; The Surveillance Threat Is Not What Orwell Imagined.