Gedankenexperiment mit Nine-Eleven
Der 11. September 2001 und die damit verbundenen Terroranschläge sind in die Geschichtsbücher eingegangen und ich bin mir ziemlich sicher, dass jedem von euch bei diesem Datum direkt bestimmte Bilder in den Kopf geschossen kommen.
Was aber, wenn genau ein Tag vorher, nämlich am 10. September 2001, ein Gesetz in Kraft getreten wäre, wonach die Fluggesellschaften dazu verpflichtet wären, kugelsichere Cockpittüren in ihren Flugzeugen nachzurüsten. Hätte man dadurch die Anschläge verhindern können? Vielleicht. Trotzdem hätte der Gesetzgeber keine Anerkennung dafür bekommen. Denn woher soll man denn wissen, dass dadurch ein Anschlag verhindert werden konnte, wenn dieser gar nicht stattgefunden hat.
Zugegeben: Dieses Szenario ist ziemlich unwahrscheinlich. Aber Nassim Nicholas Taleb benutzt dieses Gedankenexperiment in seinem Buch „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse*“, um die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse zu verdeutlichen. Was es damit auf sich hat und warum man eigentlich kaum eine Vorhersage trauen kann, schauen wir uns jetzt an.
Schwarzer Schwan Bedeutung
Dazu müssen wir den Begriff „Schwarzer Schwan“ erst einmal definieren. Dazu schauen wir uns zuerst die folgende Geschichte an.
Vor der Entdeckung Australiens waren die Menschen in der Alten Welt davon überzeugt, alle Schwäne seien weiß. Als dann der erste schwarze Schwan entdeckt wurde, war das natürlich eine große Überraschung, denn nur die Sichtung eines einzigen schwarzen Schwans reichte aus, dass eine allgemeine Feststellung, die sich über Jahrtausende durch die Sichtung von Millionen weißer Schwänen gebildet hatte, zum Sturz gebracht wurde.
Schwarze Schwäne stehen also allgemein symbolisch für extreme und seltene Ereignisse, mit denen wir nicht rechnen. Und sie zeigen, wie zerbrechlich unser Wissen ist und welche schwerwiegenden Folgen es haben kann, nur durch Beobachtung und Erfahrung zu lernen.
Nehmen wir dafür mal ein anderes Beispiel: Nämlich einen Truthahn, der regelmäßig von seinem Züchter etwas zu essen bekommt. Mit der Zeit fühlt sich der Truthahn sicher, bis er eines Tages zu Thanksgiving geschlachtet wird. Für den Truthahn, der nur aus der Vergangenheit gelernt hat, ist dieses Ereignis nicht vorhersehbar gewesen. Damit ist es also ein Schwarzer Schwan; ein Ausreißer, der außerhalb des Erfahrungsbereichs und den Erwartungen liegt. Nicht jedoch für den Züchter. Denn der wusste von Anfang an, dass irgendwann das Unausweichliche passieren wird.
Eigenschaften von Schwarzen Schwänen
Dieses Ereignis hat für den Truthahn natürlich enorme Auswirkungen: nämlich den Tod. Interessant ist dabei auch, dass im Nachhinein oft versucht wird, Erklärungen für den Eintritt eines Schwarzen Schwans zu finden und es damit vorhersagbar zu machen.
Schwarze Schwäne werden also durch diese drei Eigenschaften charakterisiert:
- Seltenheit
- enorme Auswirkungen
- angebliche Vorhersagbarkeit in der Rückschau
Schwarze Schwäne haben einen enormen Einfluss auf unser Leben: Denken wir beispielsweise an den Aufstieg Adolf Hitlers oder die Entwicklung des Internets.
Hätte man diese Ereignisse vorhersehen können? Nein, sagt Nassim Taleb. Denn hätte man beispielsweise die Entwicklung des Internets im Mittelalter vorhergesehen, hätte man es ja bereits bei der Vorhersage erfunden. Oder hätte man die Ereignisse von Nine-Eleven vorhergesehen, hätte man das Ganze verhindern können.
Schwarzen Schwäne können also gerade auch deshalb eintreten und sind so gefährlich, weil keiner mit ihnen rechnet.
Im Normalfall konzentrieren wir uns nämlich auf das Bekannte und auf das, was wir wissen. Eigentlich ist aber eher das interessant, was wir nicht wissen. Denn das was wir wissen, kann uns nicht wirklich verletzen.
Warum Vorhersagen schwierig sind
Das bedeutet allerdings auch, dass wir den Lauf der Geschichte nicht wirklich vorhersagen können. Denn die Dynamik der Ereignisse ist durch so viele Zufallsfaktoren beeinflusst. Die Geschichte kriecht nicht vor sich hin, sondern verläuft in Sprüngen – so Nassim Taleb. Damit sind auch viele Experten laut Taleb komplett nutzlos – denn ihre Fehlerrate für Prognosen ist einfach zu groß. Zwischen den meisten „Experten“ und Betrügern gibt es kaum einen Unterschied – so der Autor. Besser wäre es zum Beispiel die Szenarien mit einer möglichen Fehlerrate zu verbinden.
Vielleicht kennt ihr in diesem Zusammenhang schon das Zitat von Yogi Berra:
„Es ist schwierig Vorhersagen zu machen – vor allem über die Zukunft.“ (S. 216)
Bei dieser Gelegenheit rechnet Taleb mit der Portfoliotheorie und mit der gaußschen Glockenkurve ab. Letztere sagt aus, dass die Werte um den Durchschnitt konzentriert sind. Diese Denkweise sei aber in den meisten Fällen falsch. Wieso genau möchte ich euch an dieser Stelle ersparen – nur so viel: Es geht unter anderem um Messfehler und fehlende Skalierbarkeit.
Oft ist es auch so, dass wir uns im Nachhinein genau an die Dinge erinnern, die zu den Fakten passen. Die Ereignisse präsentieren sich uns also auf verzerrte Weise. Deshalb sind laut Taleb auch Tagebücher so hilfreich, weil sie eine Momentaufnahme sind und uns die Ereignisse nicht rückblickend beschreiben, sondern währenddessen.
Mediokristan und Extremistan
Zur besseren Unterscheidung teilt Nassim Taleb in zwei verschiedene Länder ein:
- Extremistan
- Mediokristan
In Extremistan kann das Ganze durch eine einzige Beobachtung stark beeinflusst werden.
In Mediokristan hat eine einzelne Beobachtung keinen wesentlichen Einfluss auf das Ganze. Das Land wird vom Mittelmaß beherrscht und es gibt wenige Fehlschläge und Extreme.
Untersucht man beispielsweise die Durchschnittsgröße in Deutschland, wird eine sehr große Person die Statistik nicht sonderlich beeinflussen – natürlich vorausgesetzt, dass genug Menschen befragt werden. Dieses Experiment kann man also dem utopischen Land Mediokristan zuschreiben.
Untersucht man dahingegen beispielsweise das Durchschnittsvermögen, könnte eine sehr reiche Person wie Elon Musk das Ergebnis stark verzerren, wenn er in der Stichprobe mit erfasst werden würde. Das wäre ein Beispiel für Extremistan, denn eine Beobachtung beeinflusst das Ganze erheblich – im Gegensatz zur Erhebung der Körpergröße.
Klingt eigentlich ziemlich logisch oder? Aber diese Erkenntnis hat weitreichende Folgen. Denn in Mediokristan können Schwarze Schwäne eigentlich nicht auftreten. Denn entweder wurde bereits alles enthüllt oder selbst wenn ein außergewöhnliches Ereignis auftritt, hat es keine Folgen.
Nicht aber in Extremistan. Denn da kann das Zufällige und Unvorhergesehene extreme Einflüsse haben. Damit ist Extremistan anfällig für Schwarze Schwäne.
Das Problem des Schwarzen Schwans in seiner historischen Form zeigt also die Schwierigkeit, aus den verfügbaren Informationen allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen oder aus dem Vergangenen, Bekannten und Gesehenen zu lernen (vgl. S. 101).
Bestätigungsfehler
Und aus unserer Blindheit für Schwarze Schwäne ergeben sich noch andere Probleme.
Beispielsweise konzentrieren wir uns oft auf vorher ausgewählte Segmente und verallgemeinern davon ausgehend auf das, was wir nicht sehen - der sogenannte Bestätigungsfehler. Es macht nämlich sehr wohl einen Unterschied, ob es keine Beweise für Schwarze Schwäne gibt oder Beweise für keine Schwarzen Schwäne.
Oft wird das allerdings im Alltag nicht beachtet. Beispielsweise bei der Krebserkennung. Denn da können nicht alle Zellen untersucht werden, sodass man auf eine Stichprobe angewiesen ist. Ist diese negativ, ist das allerdings nicht ein Beweis für keinen Krebs, sondern es gibt keinen Beweis für Krebs. Ein kleiner aber sehr wichtiger Unterschied!
Narrative Verzerrung
Außerdem verhalten wir uns so, als würden Schwarze Schwäne nicht existieren und sind oft der narrativen Verzerrung ausgeliefert. Das bedeutet, dass wir versuchen in Reihen von Fakten Geschichten oder Muster zu erkennen.
Generell lassen sich zwei Denkmodi unterscheiden:
- System 1: Intuition
- System 2: Denken
Denkfehler entstehen laut Taleb häufig dadurch, dass wir denken, wir würden das zweite System benutzen, dabei benutzen wir sehr häufig das erste System. Mehr zu den unterschiedlichen Denksystemen habe ich euch in der Vorstellung zu Daniel Kahnemans Buch "Schnelles Denken, langsames Denken" zusammengefasst.
Stumme Zeugnisse
Eine weitere Wahrnehmungsverzerrung wird durch sogenannte „stumme Zeugnisse“ ausgelöst. Dazu eine Geschichte, die Cicero vor 2.000 Jahren erzählt haben soll:
Nach einem Schiffsuntergang werden einige Tafeln mit Bildern von gläubigen Menschen gezeigt, die durchs Beten das Unglück überlebt haben. Oberflächlich betrachtet, könnte man von einem Wunder ausgehen. Was ist aber mit den Menschen, die gebetet haben und untergegangen sind? Diese ertrunkenen Anbeter werden natürlich keine Berichte schreiben.
Beim Entwickeln von historischen Theorien wird der Blick oft vom Friedhof abgewendet. Die Lösung in diesem Fall: Sowohl die Lebenden als auch die Toten berücksichtigen.
Das Problem lässt sich natürlich aber auch auf andere Bereiche übertragen. Beispielsweise werden meistens nur erfolgreiche Menschen betrachtet. Was ist aber mit denen, die es versucht haben und gescheitert sind? Wir sollten also nicht zu viel in Erfolgsgeschichten hineininterpretieren, denn wir sehen im Normalfall nicht das ganze Bild und welche Rolle dabei Zufall bzw. Glück gespielt hat.
Ludische Verzerrung
Bleibt noch der letzte Punkt: „Ludische Verzerrung“. Oft „tunneln“ wir nämlich, denken also viel zu engstirnig und machen uns Sorgen wegen Problemen, die passiert sind, nicht wegen denen, die passieren können. Denn den strukturierten Zufall, wie er beispielsweise im Casino anzutreffen ist, kann man nicht auf das Leben übertragen.
Vieles von Bedeutung ist ein Produkt des Zufalls und war eigentlich gar nicht geplant. Deshalb sollte man laut Taleb durch Trial and Error möglichst viel ausprobieren und jede Chance nutzen, die sich einem bietet.
Planen
Aber warum planen wir dann eigentlich überhaupt? Laut Taleb gehört das Planen zu unserem Bewusstsein dazu.
Wenn wir an morgen denken, stellen wir uns aber oft einfach ein weiteres Gestern vor.
Allerdings kennen wir nicht nur die Zukunft nicht, sondern wissen auch wenig über unsere Vergangenheit – so Taleb. Dazu folgende Experimente:
- Man lässt einen Eiswürfel schmelzen. Das Ergebnis? Klar: Eine Pfütze. (der sogenannte Vorwärtsprozess)
- Im zweiten Fall fragt man sich, woher die Pfütze denn eigentlich kommt. Und diese Frage kann man eigentlich nicht wirklich beantworten. Denn es kann ja sein, dass etwas verschüttet wurde oder selbst wenn man weiß, dass es vorher ein Eiswürfel war, kann man durch die Pfütze ja trotzdem nicht auf die Form des Eiswürfels schließen. Das ist der sog. Rückwärtsprozess.
Oft versuchen wir aber genau das. Nämlich im Nachhinein eine Erklärung oder eine Ursache für ein bestimmtes Ereignis zu finden. Dadurch, dass es aber so viele zufällige Variablen gibt, ist das in vielen Fällen nur sehr schwer möglich. Zufall ist also nichts anderes als Unwissen.
Lösungsansätze
Aber was kann man dagegen tun, wenn das Unbekannte ja per Definition unbekannt ist?
Taleb rät beispielsweise nicht zu engstirnig zu denken und beim Denken nicht auf ausgetretenen Pfaden zu bleiben. Außerdem sollte man sich eher auf die möglichen Auswirkungen konzentrieren, um sich bei der Entscheidungsfindung darauf stützen zu können. Und man sollte zwischen positiven und negativen Zufällen unterscheiden und sich nicht von Nachrichten überfluten lassen, denn teilweise zahle sich Unwissenheit auch aus.
Dadurch kann man den Überraschungseffekt für Schwarze Schwäne verringern und sie in Graue Schwäne verwandeln. Beispielsweise ist eigentlich alleine schon durch die Tatsache, dass es zu einem Börsencrash kommen kann, kein wirklicher Schwarzer Schwan, denn es ist ja schon bekannt, dass es eintreten kann.